Das segelnde Klassenzimmer

 - die Weltumsegelung der Kiwitt (6)

Heikes Bedenken

Als ich mit Bernhard am Steg in Aigues-Mortes stand und auf Sebastian und Malte wartete, gingen mir zum hundertsten Mal die gleichen Gedanken durch den Kopf: Wird das gut gehen? Wie werden wir uns verstehen? Werde ich das Segeln mögen? Ob ich seekrank werde?...

Und dann sahen wir auch schon die Kiwitt in der Ferne, und ich erinnerte mich an den Tag, an dem ich sie das erste Mal gesehen hatte. An jenem Nachmittag sah ich mich suchend im Yachthafen nach einem Segelboot um, mit dem man meiner Meinung nach um die Welt segeln könnte. Und als Sebastian meinte, wir seien da, war mein erster Gedanke: Was, in dieser „Nussschale“ kann man Ozeane überqueren? Von innen wirkte die Kiwitt dann aber doch gleich größer, und nach einer langen Nacht an Bord mit viel heißer Schokolade gegen die Kälte und noch viel mehr spannenden Geschichten übers Segeln und ferne Länder war ich schon fast überzeugt. Noch mehr, nachdem ich einen Nachmittag bei Bernhard und Petra verbracht hatte, deren Erfahrungen und Fotos mein Fernweh vollends schürten. Zurück mit einem riesigen Stapel Bücher über Segelabenteuer, habe ich mir das Ganze dann noch einmal in Ruhe durch den Kopf gehen lassen, mit meinen Eltern und Freunden gesprochen, mit der Uni, weil ich ja gerade im dritten Semester Pharmazie studierte, und dann meinen Entschluss gefasst: Ich will mit! 

Und da war ich nun, einige Tage nachdem ich mein erstes Staatsexamen hinter mich gebracht hatte, und bestieg mit meinem 15kg schweren Rucksack mein Zuhause für die nächsten drei Jahre. Da es ohnehin noch keinen Platz für meine Sachen gab, hieß es, stell den Rucksack erst mal in den „Salon“, den größten Raum in der Kiwitt, der auf knapp 2,40m Länge sowohl  Küche als auch Wohn- und Esszimmer beherbergt. Etwas Privatsphäre versprach ein Vorhang, der den Wohnbereich von unserer zweiten Kajüte mit Bett, Waschbecken und Camping-Klo trennte. Nachdem wir mit einem Gläschen Sekt auf unser Zusammentreffen angestoßen hatten, wollten Sebastian und Malte im Supermarkt gegenüber einkaufen gehen. Da ich nicht wusste, was es an Bord schon alles gab, ließ ich die zwei erst mal machen (ja, ich kannte sie zu diesem Zeitpunkt wirklich noch nicht besonders gut)

Der erste Schock

An der Kasse erlebte ich den ersten kleinen Schock der Reise. Die beiden hielten 4 Paletten Bier und 15 Flaschen Sekt (mit 79 Cent die Flasche zugegebenermaßen eher ein preisbewusster denn edler Tropfen) für einen angemessenen Vorrat, um die nächste Zeit auf See nicht auf dem Trockenen zu sitzen. Neben Bier und Sekt hatten sie allerdings auch noch etwas Nahrhaftes im Einkaufskorb liegen – ausgerechnet ein Stück Käse, den ich nicht mochte. Bezahlen durfte ich den Einkauf, da ja ansonsten ohnehin noch „alles was man braucht“ an Bord wäre.

Aber zu der Frage, wie ich mich als Segelanfängerin fühlte: Meine erste Überfahrt, von Aigues-Mortes nach Sète, fand ich toll! Die Sonne strahlte, der Himmel war blau, der Wind blies, wir segelten und es ging mir trotz der ordentlichen Schräglage gut. Ich war nicht seekrank! Es war außerdem ein Riesenspaß, sich von der Kiwitt durchs seichte Wasser ziehen zu lassen.

Viel gelernt übers Segeln habe ich an diesem Tag allerdings nicht. Da hab ich die Männer, für die es ja auch seit Längerem wieder das erste Mal Segeln war, einfach mal machen lassen. Und als Sebastian mir dann bei den nächsten Überfahrten Dinge zugerufen hat wie „Schieß die Schot auf!“ oder „Fier die Fock!“, dachte ich mir nur, kann man mir nicht einfach sagen, dass ich das rote Seil da rechts zusammenrollen oder das Vorsegel ein Stück rauslassen soll?

Meiner ersten Nachtwache sah ich mit etwas Bammel entgegen und hoffte nur, dass uns kein Schiff zu nahe kommen oder der Wind drehen würde. Sebastian lag aber mit seinem Schlafsack im Cockpit, so dass ich ihn, falls es brenzlich geworden wäre, jederzeit hätte wecken können.

Überhaupt habe ich mir vor dieser ersten „längeren“ – ca. 200 Seemeilen – Überfahrt nach Mallorca mit zwei Nachtfahrten einige Gedanken gemacht. Was wäre, wenn dies oder jenes passieren würde und man noch so viele Stunden oder Tage bräuchte, bis man einen Arzt erreicht?... Aber mit jeder längeren Überfahrt, die wir gemacht haben, wurden die Zweifel geringer. Wie oft passieren solche Horrorszenarien, die man sich da ausmalt, denn auch schon im normalen Leben? So gut wie nie. Wieso sollten sie sich jetzt ausgerechnet auf See ereignen? Langsam gewöhnt man sich an das Leben auf See und genießt auch diese ruhigen Tage mit einem guten Buch an Deck, dem endlos blauen Himmel und Meer, dem gleichmäßigen Plätschern der Wellen... Aber ich will noch gar nicht so viel vorwegnehmen…

Und was sagt Sebastian?

Wie viele maritime Begriffe man verwendet ist wohl jedem schon mal aufgefallen, der jemanden an Bord hatte, der sonst eher festen Boden unter den Füßen gewohnt ist. Dass eine Pinne eine Herausforderung sein kann, wird einem nur bewusst, wenn man sich mal klar macht, dass sie genau umgekehrt funktioniert wie ein Lenkrad, nach rechts bedeutet linksrum und nach links….. Darüber hinaus auch noch direkt die ersten Fahrten auf dem Mittelmeer. Je mehr ich heute darüber nachdenke,  desto mehr bewundere ich Heike, dass sie überhaupt den Mut gehabt hat mitzufahren.

Für mich war die Weltumsegelung ein logischer Schritt, ich hatte mich jahrelang damit beschäftigt und hatte auch immer mal wieder mit Booten zu tun. Aber Heike, als echte „Landratte“? Ich hatte sie ja erst vor nicht mal einem Jahr auf die Idee gebracht mit einem Boot um die Welt zu segeln. Jetzt kann man sagen, in dieser Zeit könne man sich ja damit beschäftigen. Das hat sie ja auch gemacht. Aber seien wir mal ehrlich. Ohne irgendeinen Bezug zur Praxis bleiben die ganzen Begriffe wohl doch eher böhmische Dörfer. Mal ganz davon abgesehen, dass Heike noch unmittelbar vor der Reise ihr Staatsexamen schreiben musste.

Dass es auch ohne große Vorkenntnisse geht, hat sie eindrucksvoll bewiesen. Nach ein paar Tagen an Bord saßen die wichtigsten Begriffe und beim Umgang mit dem Boot verlor sie auch die erste Scheu. Damit schien der Grundstein für eine erfolgreiche Reise gelegt. Jetzt mussten wir nur noch miteinander auskommen.Wie das funktinonierte? Hier gehts zur Fortsetzung!