Ungewöhnliche Weihnachtslektüre 

Weihnachten ist das Fest der Besinnung. Und auf was besinnt sich der Segler? Natürlich auf die großen Segelerlebnisse in seinem Leben. Dazu gehört auch der denkwürdige, weil ereignisreiche Ecker-Cup 1995. Und an die nachfolgende Geschichte, die der Kulturredakteur der angesehenen Süddeutschen Zeitung, Karl Forster, so nachhaltig niedergeschrieben hat - sprachlich so farbig und voller Salz, wie es kein Yachtjournalist besser könnte. Sogar ein Jack London, ein Joseph Conrad oder wie sie alle heißen, hätten die Ereignisse auf der Sturmfahrt mit 67 vollbesetzten Fahrtenyachten nach Israel nicht besser rüberbringen können. So haben die Verantwortlichen der Süddeutschen Zeitung, die ja eigentlich mit Segeln wenig am Hut hat, auch gedacht und deshalb Karl Forster eine ganze Seite eingeräumt. Zu recht, denn es ist eine der besten Segelgeschichten, die ich kenne.

Und sie hat sich so begeben.

Weihnachten 2010

Bobby Schenk


Auf der Flucht vor dem Rächer  

Geschwinde, geschwinde!  

Es teilt sich die Welle,

Es naht sich die Ferne,

schon seh' ich das Land!

 Johann Wolfgang von Goethe

Rechts oben ein Kürzel nur für Seefahrer. 1080 sm. »sm« steht für Seemeilen, eine Seemeile entspricht 1,852 Kilometer. 1080 Seemeilen sind demnach 2000,16 Kilometer. Luftlinie München-Faröer Inseln, zum Beispiel, oder München-Leningrad oder München-Kreta. Oder Luftlinie Marmaris-Pylos-Ashkelon. Rechts oben auf dem Wettfahrtbogen des Ecker-1000-Meilen-Race steht: 1080 sm. 350 Seemeilen von Marmaris an der kleinasiatischen Küste der Türkei bis nach Pylos am Südwestende des Peloponnes. 730 Seemeilen dann von Pylos weiter nach Ashkelon in Israel, in Sichtweite des Gaza-Streifens gelegen.

Am 24. Oktober 1995 um 11 Uhr Weltzeit starten 67 Segelboote, um die Distanz von 1080 Seemeilen in möglichst kurzer Zeit hinter sich zu bringen. Das schnellste benötigt insgesamt 187 Stunden und 56 Minuten plus 3,45 Strafstunden, das langsamste elf Tage, 3 Stunden und 56 Minuten und kriegt noch jede Menge Strafstunden aufgebrummt. sm - ein Kürzel für Verrückte?

Blond ist der Held, brav, hilfsbereit und gut. Lieblingsschwiegersohn, Schwarm der Mädchen, geachtet auch von den Gegnern. Ein Held wie aus dem klassischen Western, der Gute mit dem weißen Hut. Gunnar ist sein Name. 

Schwarzhaarig ist der Rächer. Unrasiert, nie ohne Kippe zwischen den Lippen. Lauernd sein Blick. Ungeliebt, von manchen sogar gehaßt. Ein Mann ohne Freunde, doch gefürchtet ob seines Könnens. Ein Bösewicht wie aus dem Western, fehlt nur noch der schwarze Hut. Landgraf ist sein Name. Keiner nennt seinen Vornamen. 

Der Kampf Gunnar gegen Landgraf - 1080 Seemeilen Licht gegen Finsternis, gut gegen böse, »Hookipa« gegen »Lady Angeliki«. Die Hookipa ist Gunnars Boot, ein ziemlich gewöhnliches Segelboot mittlerer Größe ohne aufwendige Extras (Gib Sea 442), wie es jeder Tourist mit ein  bißchen Knowhow im Sommer von Insel zu Insel segeln kann. Landgrafs Lady Angeliki dagegen: eine nervöse, hochsensible Rennziege (eine X-412), am obersten Limit der Beschränkungen für das Ecker-1000-Meilen-Rennen. 

Die Wetterkarte für den 24. Oktober zeigt im Westen des Mittelmeeres ein nicht allzu heftiges Tiefdruckgebiet und ein Hoch über dem Balkan. Das verspricht Wind. 67 Boote kurven nördlich der Startlinie und warten auf den Schuß. 67 Mannschaften aus Österreich, Deutschland, der Schweiz und Holland. 67 Mannschaften unterschiedlichster Zusammensetzung, die nur eines gemeinsam haben: Sie segeln ein 1000-Meilen-Rennen für Amateure, in dem es nichts zu gewinnen gibt außer ein paar Pokalen. 

Da ist zum Beispiel die »Green Spleen« unter Skipper Johann Krupa: sechs junge, ehrgeizige Jollensegler aus Österreich, die mit der schlanken, kleinen, nur elf Meter langen Diva den Favoriten das Fürchten lehren wollen. Da ist zum Beispiel die »Annabella«, eine stinknormale First 45 F5. Chef im Cockpit: Heinz Neumann, zentnerschwerer Mittelpunkt eines Kombinats aus Oberösterreich, mit dem er normalerweise ökologischen Gartenbau betreibt, und der hier mit fünf Frauen aus dieser Gemeinschaft (und nur mit fünf Frauen) auf Fahrt geht. 

Oder nehmen wir die »Chou-Chou«, eine Sunshine 38, also wieder so ein Winzling. Vier ältere Herren aus Hamburg haben einen jungen Regatta-Spezialisten aus ihrer Heimat angeheuert, damit er ihnen helfe, die Phalanx der Südländer aus Österreich, Bayern und der Schweiz zu durchbrechen. Oder die »Korifo«, auf der Vater und Sohn ganz alleine gegen die Übermacht segeln. Vater und Sohn und 1080 Meilen Einsamkeit - eine besondere Art der Bewältigung des Generationenkonflikts? Nicht zu vergessen die »Mescalito«, die die Mannschaft ganz einfach in »Kroatia« umgetauft hat. Aus gegebenem Anlaß: Hier segeln neun Männer aus Zadar unter dem Kommando des Brustkrebs-Chirurgen Zelimir Kulisie nicht nur um den Sieg, sondern auch um die Anerkennung ihres jungen Staates. 

Sternklar ist die Nacht. Im Nordwesten verschwindet langsam der Große Wagen. Ein kräftiger Wiind treibt das Schiff vorwärts. Vorbei an den Pretiosen der Ägäis, vorbei auch an den Touristenhochburgen Griechenlands. Zeit zum Nachdenken. Warum fährt ein Segelboot  vorwärts? Klar, wenn der Wind von hinten kommt, geht's ihm wie dem Brotkrümel, den man vom Tisch auf den Teppich bläst. Doch wenn der Wind von vorn kommt wie jetzt? Welche Wunder der Physik, daß die Liebe der Luftteilchen zueinander jenen aerodynamischen Effekt auslöst, der Segelboote im Winkel von 35 Grad gegen den Wind fahren, der Gleitschirme und Jumbos fliegen läßt. Weil sich Luftteilchen, die sich an der Vorderkante des Segels trennen müssen, dahinter wieder vereinigen wollen, weil dadurch auf der Vorderseite des Segels ein Überdruck, auf der Hinterseite ein Unterdruck entsteht, weil also das hintere Teilchen einen weiteren Weg zurücklegt als sein Freund auf der inneren Seite, entsteht jener Sog, der uns jetzt nach Pylos zieht. Segeln - eine phantastische Errungenschaft menschlicher Intelligenz, herrschen über die Elemente; wir machen den Wind zu unserem Diener. 

Carla Schenk sagt: »Schau, Bobby, da ist ein Halo.« Carla und ihr Mann, der Münchner Amtsrichter Bobby Schenk, sind Deutschlands derzeit berühmteste Weltumsegler. Sie sind mit auf dem Regatta-Begleitschiff, dem 50 Meter langen Rahsegler »Amorina«, weil Bobby am Zielort als Oberschiedsrichter über eventuelle Proteste und Zweifelsfälle urteilen soll. Bobby und Carla wissen, was ein Halo zumindest in der Karibik oder im Indischen Ozean bedeutet: Hurrikan. Jetzt, achtzig Meilen östlich von Kreta, mit Kurs 106 Grad Richtung Israel, mitten im Mittelmeer, lächeln alle ein bißchen über Carla und ihr Halo, diesen Ring aus gefrorenen Wasserteilchen der ganz hohen Zirren-Wolken. 

Kurze Zeit später wird der Süden grau, dunkel, düster. Die Sonne verschwindet, ein erster Windstoß erschüttert das Schiff. Dann tobt die Hölle. Wellen brechen, Gischt zischt waagerecht und meterhoch über die Wasseroberfläche mit jener marmornen Struktur, die Orkanstärke verrät. Blitze jagen unmittelbar vor, neben und hinter dem Boot ins Wasser, zwei Mann schweben beim Bergen der letzten Segel der Amorina fast waagerecht in der Luft, bevor sie auf den Boden knallen. Ohne Rettungsgurte wären sie längst in der tobenden See verschwunden. Beklemmende Stille an Bord. Jeder denkt an die 67 kleinen Yachten draußen in der Dunkelheit. Die Elemente zeigen dem Menschen, wie klein er ist. Der Wind ein Diener? Nein. Herrscher über Leben und Tod. 

Es ist dies der Tornado, der Anfang November des Jahres 1995 übers ganze Mittelmeer nach Norden gezogen ist, allein in Ägypten 500 Menschenleben gefordert und Norditalien verwüstet hat. Auf den 67 Booten im Feld gibt es zwar jede Menge zerrissene Segel, doch dank hervorragender Seemannschaft keinerlei ernsthafte Verletzungen. Nach einer Stunde ist der Spuk vorbei. 

Dann quäkt um 1.32 Uhr das Funkgerät auf Kanal 72. Die  »Hookipa« hat gerade eine letzte Meldung aufgefangen, derzufolge im Moment auf der »Sarita« der Mast breche. Skipper Alois Sulzer, als Chefkameramann des ORF beim Rennen dabei, kann gerade noch schnell seine Position absetzen, dann ist Schluß mit dem Funkkontakt. Die »Hookipa«? Genau. Das Pferd des edlen Reiters Gunnar, der sich nach einigen Problemen auf den ersten hundert Meilen der zweiten Etappe nun ganz nach vorne geschoben hat. Gunnar weiß, was Mastbruch auf hoher See bedeutet. Bis nach Port Said sind es 80 Meilen, nach Limassol auf Cypern etwa 70, das Ziel Ashkelon ist noch 200 Meilen entfernt. Mit dem Mast ging auch die GPS-Antenne auf der »Sarita« zu Bruch. GPS ist ein hocheffizientes Navigationssystem, das den Sextanten zur Ortsbestimmung (fast) ersetzt. Gunnar dreht um. Jagt sieben oder acht Meilen zurück, findet auf dem Radar die Sarita, fährt dicht ran und übergibt ein kleines GPS-Handgerät. Nach einer weiteren Stunde hat Gunnar die ursprüngliche Position wieder erreicht. Der Sieg ist um zweieinhalb Stunden weiter weg. Von der Lady Angeliki des schwarzen Rächers Landgraf gibt es zu diesem Zeitpunkt keine Positionsangabe. 

Am nächsten Morgen dann wieder Hektik am Funk. Die Mescalito/Kroatia meldet, auf der »Condor«, die hundert Meilen hinter der Amorina liegt, habe der Skipper einen Magendurchbruch erlitten. Magendurchbruch, das weiß jeder an Bord, muß sofort operiert werden. Rennleiter Wolfgang Legenstein funkt Israel Navy an. Israel Navy schickt einen Helikopter los. Doch die Condor liegt immer noch in schwerem Wetter. Der Pilot kann das Boot nicht anfliegen. Da düst von Norden die Regattayacht »Messalina« auf die Condor zu. Am Bord ist ein angehender Arzt. Er steigt über (bei immer noch sieben Windstärken ein fast lebensgefährliches Kunststück). Per Funk Bestätigung des Verdachts. Der Frachter »Kamelia« ist gerade an der Condor-Position vorbeigezogen. Pan-Pan-Ruf, die letzte Notrufstufe vor Mayday, der Frachter dreht bei, per Beiboot wird der Todkranke übergesetzt, die Kamelia läuft volle Kraft voraus auf Haifa zu, ein Schnellboot der Israel Navy kommt ihr entgegen, nimmt den fast bewußtlosen Patienten und den jungen Arzt auf und rast in den Hafen. Der Mann überlebt. 

Die Idee, Freizeitseglern die Herausforderung einer Hochseeregatta anzubieten, wurde irgendwann Ende der achtziger Jahre, so genau weiß das keiner mehr, im österreichischen Innviertel, genauer gesagt in Ried, und noch genauer, dortselbst im Keller des Wirtshauses vom Hafner Pauli geboren. Sie hat viel zu tun mit dem Minderwertigkeitskomplex der Österreicher, die als Binnenländler zum Beispiel von den hanseatischen Wasserratten seit jeher von oben herab belächelt werden. Sozusagen aus kollektivem Trotz heraus wuchs in der Alpenrepublik ein Heer hochqualifizierter Fahrtensegler heran, die, um es denen dort oben zu zeigen, geradezu besessen Navigation büffelten, in Skippertrainings den komplizierten Umgang mit hunderttausend Mark teuren Yachten übten und überraschend schnell das insgesamt bedauernswert schlechte Seglerische Niveau des östlichen Mittelmeerraumes deutlich anhoben.  

Kurt Ecker aus Ried, Workaholic, Kettenraucher, wahrer Segelfanatiker und mittlerweile führender Bootsvercharterer in Österreich, rief dann also den Ecker-Cup ins Leben, ein Rennen, das seit 1989 jeweils im Spätherbst eine Armada von Booten über mindestens 1000 Meilen in entlegene, oft politisch brenzlige Gegenden des Mittelmeeres führt. Zweimal nach Alexandria, zweimal nach Tunesien und jetzt also nach Ashkelon, einem aufstrebenden jungen Ort alter Kreuzfahrergeschichte in Israel, gerade zehn Kilometer vom Gaza-Streifen entfernt. Auch in diesem Jahr reicht das Budget von etwa 650 000 Mark nicht einmal aus, um die  Kosten zu decken. Dafür kann das Unternehmen Ecker-Cup für sich geltend machen, das mittlerweile größte seglerische Ereignis des gesamten Mittelmeerraumes zu sein. Auch wenn, um den Charakter des Fahrtensegelns zu bewahren, keine Spinnaker gefahren werden und statt dessen jedes Boot insgesamt 13 Stunden lang (von einer speziell entwickelten Black Box überwacht) unter Maschine fahren darf. Daß jedes einzelne Schiff je nach Größe und Ausrüstung einen speziellen Ausgleichsfaktor hat, ist bei Regatten dieser Art internationale Norm. Wie auch immer: Der Minderwertigkeitskomplex der Älpler wurde von Jahr zu Jahr, von Cup zu Cup geringer.  

Zieleinlauf in Ashkelon. Wo bleibt der blonde Held, wo steckt der schwarze Rächer? Die ersten Boote, sie haben das Motor-Limit auf der Flucht vor den Stürmen weit überschritten. Dann, sechseinhalb Stunden später auf Kanal 72: »Regattaleitung für Hookipa.« Gunnar meldet sich an: Noch drei Meilen, dann trötet die Sirene, die Hookipa ist im Ziel. Verhaltener Jubel bei Gunnars Mannschaft. Wo ist Landgraf? 

Der kommt, spätnachts, bleich, doch hoffnungsfroh, denn er ist, wie er später sagen wird, »gesegelt wie der Teufel«, um die falsche Routenwahl südlich um Kreta herum wieder wettzumachen. Es reicht für Landgraf nur zum Klassensieg, jetzt sagen auch alle wieder Heinz zu ihm. 

Doch eigentlich liegt die Chou-Chou vorne, jener Winzling mit den vier älteren Herren aus Hamburg. Eigentlich. Denn das Schiedsgericht entscheidet: Gunnar bekommt die zwei Stunden Hilfeleistung für die Sarita gutgeschrieben. Das reicht. Gunnar sagt: »Nicht ich habe gewonnen, sondern die Seemannschaft.« Die Mannschaft der Chou-Chou applaudiert. Heinz Landgraf auch.  

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Bobby Schenk
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