Auf
der Flucht vor dem Rächer
Geschwinde,
geschwinde!
Es teilt sich die
Welle,
Es naht sich die
Ferne,
schon seh' ich das
Land!
Johann
Wolfgang von Goethe
Rechts oben ein Kürzel
nur für Seefahrer. 1080 sm. »sm« steht für Seemeilen, eine
Seemeile entspricht 1,852 Kilometer. 1080 Seemeilen sind demnach
2000,16 Kilometer. Luftlinie München-Faröer Inseln, zum Beispiel,
oder München-Leningrad oder München-Kreta. Oder Luftlinie
Marmaris-Pylos-Ashkelon. Rechts oben auf dem Wettfahrtbogen des
Ecker-1000-Meilen-Race steht: 1080 sm. 350 Seemeilen von Marmaris an
der kleinasiatischen Küste der Türkei bis nach Pylos am Südwestende
des Peloponnes. 730 Seemeilen dann von Pylos weiter nach Ashkelon in
Israel, in Sichtweite des Gaza-Streifens gelegen.
Am 24. Oktober 1995
um 11 Uhr Weltzeit starten 67 Segelboote, um die Distanz von 1080
Seemeilen in möglichst kurzer Zeit hinter sich zu bringen. Das
schnellste benötigt insgesamt 187 Stunden und 56 Minuten plus 3,45
Strafstunden, das langsamste elf Tage, 3 Stunden und 56 Minuten und
kriegt noch jede Menge Strafstunden aufgebrummt. sm - ein Kürzel für
Verrückte?
Blond ist der Held, brav,
hilfsbereit und gut. Lieblingsschwiegersohn, Schwarm der Mädchen,
geachtet auch von den Gegnern. Ein Held wie aus dem klassischen
Western, der Gute mit dem weißen Hut. Gunnar ist sein Name.
Schwarzhaarig ist der
Rächer. Unrasiert, nie ohne Kippe zwischen den Lippen. Lauernd sein
Blick. Ungeliebt, von manchen sogar gehaßt. Ein Mann ohne Freunde,
doch gefürchtet ob seines Könnens. Ein Bösewicht wie aus dem
Western, fehlt nur noch der schwarze Hut. Landgraf ist sein Name.
Keiner nennt seinen Vornamen.
Der Kampf Gunnar gegen
Landgraf - 1080 Seemeilen Licht gegen Finsternis, gut gegen böse, »Hookipa«
gegen »Lady Angeliki«. Die Hookipa ist Gunnars Boot, ein ziemlich
gewöhnliches Segelboot mittlerer Größe ohne aufwendige Extras (Gib
Sea 442), wie es jeder Tourist mit ein
bißchen Knowhow im Sommer von Insel zu Insel segeln kann.
Landgrafs Lady Angeliki dagegen: eine nervöse, hochsensible Rennziege
(eine X-412), am obersten Limit der Beschränkungen für das
Ecker-1000-Meilen-Rennen.
Die Wetterkarte für den
24. Oktober zeigt im Westen des Mittelmeeres ein nicht allzu heftiges
Tiefdruckgebiet und ein Hoch über dem Balkan. Das verspricht Wind. 67
Boote kurven nördlich der Startlinie und warten auf den Schuß. 67
Mannschaften aus Österreich, Deutschland, der Schweiz und Holland. 67
Mannschaften unterschiedlichster Zusammensetzung, die nur eines
gemeinsam haben: Sie segeln ein 1000-Meilen-Rennen für Amateure, in
dem es nichts zu gewinnen gibt außer ein paar Pokalen.
Da ist zum Beispiel die
»Green Spleen« unter Skipper Johann Krupa: sechs junge, ehrgeizige
Jollensegler aus Österreich, die mit der schlanken, kleinen, nur elf
Meter langen Diva den Favoriten das Fürchten lehren wollen. Da ist
zum Beispiel die »Annabella«, eine stinknormale First 45 F5. Chef im
Cockpit: Heinz Neumann, zentnerschwerer Mittelpunkt eines Kombinats
aus Oberösterreich, mit dem er normalerweise ökologischen Gartenbau
betreibt, und der hier mit fünf Frauen aus dieser Gemeinschaft (und
nur mit fünf Frauen) auf Fahrt geht.
Oder nehmen wir die »Chou-Chou«,
eine Sunshine 38, also wieder so ein Winzling. Vier ältere Herren aus
Hamburg haben einen jungen Regatta-Spezialisten aus ihrer Heimat
angeheuert, damit er ihnen helfe, die Phalanx der Südländer aus
Österreich, Bayern und der Schweiz zu durchbrechen. Oder die »Korifo«,
auf der Vater und Sohn ganz alleine gegen die Übermacht segeln. Vater
und Sohn und 1080 Meilen Einsamkeit - eine besondere Art der
Bewältigung des Generationenkonflikts? Nicht zu vergessen die »Mescalito«,
die die Mannschaft ganz einfach in »Kroatia« umgetauft hat. Aus
gegebenem Anlaß: Hier segeln neun Männer aus Zadar unter dem
Kommando des Brustkrebs-Chirurgen Zelimir Kulisie nicht nur um den
Sieg, sondern auch um die Anerkennung ihres jungen Staates.
Sternklar ist die Nacht.
Im Nordwesten verschwindet langsam der Große Wagen. Ein kräftiger
Wiind treibt das Schiff vorwärts. Vorbei an den Pretiosen der
Ägäis, vorbei auch an den Touristenhochburgen Griechenlands. Zeit
zum Nachdenken. Warum fährt ein Segelboot
vorwärts? Klar, wenn der Wind von hinten kommt, geht's ihm wie
dem Brotkrümel, den man vom Tisch auf den Teppich bläst. Doch wenn
der Wind von vorn kommt wie jetzt? Welche Wunder der Physik, daß die
Liebe der Luftteilchen zueinander jenen aerodynamischen Effekt
auslöst, der Segelboote im Winkel von 35 Grad gegen den Wind fahren,
der Gleitschirme und Jumbos fliegen läßt. Weil sich Luftteilchen,
die sich an der Vorderkante des Segels trennen müssen, dahinter
wieder vereinigen wollen, weil dadurch auf der Vorderseite des Segels
ein Überdruck, auf der Hinterseite ein Unterdruck entsteht, weil also
das hintere Teilchen einen weiteren Weg zurücklegt als sein Freund
auf der inneren Seite, entsteht jener Sog, der uns jetzt nach Pylos
zieht. Segeln - eine phantastische Errungenschaft menschlicher
Intelligenz, herrschen über die Elemente; wir machen den Wind zu
unserem Diener.
Carla Schenk sagt:
»Schau, Bobby, da ist ein Halo.« Carla und ihr Mann, der Münchner
Amtsrichter Bobby Schenk, sind Deutschlands derzeit berühmteste
Weltumsegler. Sie sind mit auf dem Regatta-Begleitschiff, dem 50 Meter
langen Rahsegler »Amorina«, weil Bobby am Zielort als
Oberschiedsrichter über eventuelle Proteste und Zweifelsfälle
urteilen soll. Bobby und Carla wissen, was ein Halo zumindest in der
Karibik oder im Indischen Ozean bedeutet: Hurrikan. Jetzt, achtzig
Meilen östlich von Kreta, mit Kurs 106 Grad Richtung Israel, mitten
im Mittelmeer, lächeln alle ein bißchen über Carla und ihr Halo,
diesen Ring aus gefrorenen Wasserteilchen der ganz hohen
Zirren-Wolken.
Kurze Zeit später wird
der Süden grau, dunkel, düster. Die Sonne verschwindet, ein erster
Windstoß erschüttert das Schiff. Dann tobt die Hölle. Wellen
brechen, Gischt zischt waagerecht und meterhoch über die
Wasseroberfläche mit jener marmornen Struktur, die Orkanstärke
verrät. Blitze jagen unmittelbar vor, neben und hinter dem Boot ins
Wasser, zwei Mann schweben beim Bergen der letzten Segel der Amorina
fast waagerecht in der Luft, bevor sie auf den Boden knallen. Ohne
Rettungsgurte wären sie längst in der tobenden See verschwunden.
Beklemmende Stille an Bord. Jeder denkt an die 67 kleinen Yachten
draußen in der Dunkelheit. Die Elemente zeigen dem Menschen, wie
klein er ist. Der Wind ein Diener? Nein. Herrscher über Leben und
Tod.
Es ist dies der Tornado,
der Anfang November des Jahres 1995 übers ganze Mittelmeer nach
Norden gezogen ist, allein in Ägypten 500 Menschenleben gefordert und
Norditalien verwüstet hat. Auf den 67 Booten im Feld gibt es zwar
jede Menge zerrissene Segel, doch dank hervorragender Seemannschaft
keinerlei ernsthafte Verletzungen. Nach einer Stunde ist der Spuk
vorbei.
Dann quäkt um 1.32 Uhr
das Funkgerät auf Kanal 72. Die »Hookipa« hat gerade eine letzte Meldung aufgefangen,
derzufolge im Moment auf der »Sarita« der Mast breche. Skipper Alois
Sulzer, als Chefkameramann des ORF beim Rennen dabei, kann gerade noch
schnell seine Position absetzen, dann ist Schluß mit dem Funkkontakt.
Die »Hookipa«? Genau. Das Pferd des edlen Reiters Gunnar, der sich
nach einigen Problemen auf den ersten hundert Meilen der zweiten
Etappe nun ganz nach vorne geschoben hat. Gunnar weiß, was Mastbruch
auf hoher See bedeutet. Bis nach Port Said sind es 80 Meilen, nach
Limassol auf Cypern etwa 70, das Ziel Ashkelon ist noch 200 Meilen
entfernt. Mit dem Mast ging auch die GPS-Antenne auf der »Sarita« zu
Bruch. GPS ist ein hocheffizientes Navigationssystem, das den
Sextanten zur Ortsbestimmung (fast) ersetzt. Gunnar dreht um. Jagt
sieben oder acht Meilen zurück, findet auf dem Radar die Sarita,
fährt dicht ran und übergibt ein kleines GPS-Handgerät. Nach einer
weiteren Stunde hat Gunnar die ursprüngliche Position wieder
erreicht. Der Sieg ist um zweieinhalb Stunden weiter weg. Von der Lady
Angeliki des schwarzen Rächers Landgraf gibt es zu diesem Zeitpunkt
keine Positionsangabe.
Am nächsten Morgen dann
wieder Hektik am Funk. Die Mescalito/Kroatia meldet, auf der »Condor«,
die hundert Meilen hinter der Amorina liegt, habe der Skipper einen
Magendurchbruch erlitten. Magendurchbruch, das weiß jeder an Bord,
muß sofort operiert werden. Rennleiter Wolfgang Legenstein funkt
Israel Navy an. Israel Navy schickt einen Helikopter los. Doch die
Condor liegt immer noch in schwerem Wetter. Der Pilot kann das Boot
nicht anfliegen. Da düst von Norden die Regattayacht »Messalina«
auf die Condor zu. Am Bord ist ein angehender Arzt. Er steigt über
(bei immer noch sieben Windstärken ein fast lebensgefährliches
Kunststück). Per Funk Bestätigung des Verdachts. Der Frachter »Kamelia«
ist gerade an der Condor-Position vorbeigezogen. Pan-Pan-Ruf, die
letzte Notrufstufe vor Mayday, der Frachter dreht bei, per Beiboot
wird der Todkranke übergesetzt, die Kamelia läuft volle Kraft voraus
auf Haifa zu, ein Schnellboot der Israel Navy kommt ihr entgegen,
nimmt den fast bewußtlosen Patienten und den jungen Arzt auf und rast
in den Hafen. Der Mann überlebt.
Die Idee, Freizeitseglern
die Herausforderung einer Hochseeregatta anzubieten, wurde irgendwann
Ende der achtziger Jahre, so genau weiß das keiner mehr, im
österreichischen Innviertel, genauer gesagt in Ried, und noch
genauer, dortselbst im Keller des Wirtshauses vom Hafner Pauli
geboren. Sie hat viel zu tun mit dem Minderwertigkeitskomplex der
Österreicher, die als Binnenländler zum Beispiel von den
hanseatischen Wasserratten seit jeher von oben herab belächelt
werden. Sozusagen aus kollektivem Trotz heraus wuchs in der
Alpenrepublik ein Heer hochqualifizierter Fahrtensegler heran, die, um
es denen dort oben zu zeigen, geradezu besessen Navigation büffelten,
in Skippertrainings den komplizierten Umgang mit hunderttausend Mark
teuren Yachten übten und überraschend schnell das insgesamt
bedauernswert schlechte Seglerische Niveau des östlichen
Mittelmeerraumes deutlich anhoben.
Kurt Ecker aus Ried,
Workaholic, Kettenraucher, wahrer Segelfanatiker und mittlerweile
führender Bootsvercharterer in Österreich, rief dann also den
Ecker-Cup ins Leben, ein Rennen, das seit 1989 jeweils im Spätherbst
eine Armada von Booten über mindestens 1000 Meilen in entlegene, oft
politisch brenzlige Gegenden des Mittelmeeres führt. Zweimal nach
Alexandria, zweimal nach Tunesien und jetzt also nach Ashkelon, einem
aufstrebenden jungen Ort alter Kreuzfahrergeschichte in Israel, gerade
zehn Kilometer vom Gaza-Streifen entfernt. Auch in diesem Jahr reicht
das Budget von etwa 650 000 Mark nicht einmal aus, um die
Kosten zu decken. Dafür kann das Unternehmen Ecker-Cup für
sich geltend machen, das mittlerweile größte seglerische Ereignis
des gesamten Mittelmeerraumes zu sein. Auch wenn, um den Charakter des
Fahrtensegelns zu bewahren, keine Spinnaker gefahren werden und statt
dessen jedes Boot insgesamt 13 Stunden lang (von einer speziell
entwickelten Black Box überwacht) unter Maschine fahren darf. Daß
jedes einzelne Schiff je nach Größe und Ausrüstung einen speziellen
Ausgleichsfaktor hat, ist bei Regatten dieser Art internationale Norm.
Wie auch immer: Der Minderwertigkeitskomplex der Älpler wurde von
Jahr zu Jahr, von Cup zu Cup geringer.
Zieleinlauf in Ashkelon.
Wo bleibt der blonde Held, wo steckt der schwarze Rächer? Die ersten
Boote, sie haben das Motor-Limit auf der Flucht vor den Stürmen weit
überschritten. Dann, sechseinhalb Stunden später auf Kanal 72:
»Regattaleitung für Hookipa.« Gunnar meldet sich an: Noch drei
Meilen, dann trötet die Sirene, die Hookipa ist im Ziel. Verhaltener
Jubel bei Gunnars Mannschaft. Wo ist Landgraf?
Der kommt, spätnachts,
bleich, doch hoffnungsfroh, denn er ist, wie er später sagen wird,
»gesegelt wie der Teufel«, um die falsche Routenwahl südlich um
Kreta herum wieder wettzumachen. Es reicht für Landgraf nur zum
Klassensieg, jetzt sagen auch alle wieder Heinz zu ihm.
Doch eigentlich liegt die
Chou-Chou vorne, jener Winzling mit den vier älteren Herren aus
Hamburg. Eigentlich. Denn das Schiedsgericht entscheidet: Gunnar
bekommt die zwei Stunden Hilfeleistung für die Sarita gutgeschrieben.
Das reicht. Gunnar sagt: »Nicht ich habe gewonnen, sondern die
Seemannschaft.« Die Mannschaft der Chou-Chou applaudiert. Heinz
Landgraf auch.