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Der Traum vom Fliegen
Am nächsten Tag erwarteten wir den Besuch von Peter und Renate. Peter ist Generalsekretär beim „Yacht Club Austria“. Dazu muss ich schon etwas erklären:
Vor ein paar Jahren war mir die Ehre und wie ich zwischenzeitlich weiß, auch die Last zuteil geworden, zum Präsidenten (mit dem schönen Titel „Commodore“) des Yacht Club Austria gewählt zu werden. Jeder wird sich wohl fragen, was ein Bayer an der Spitze eines österreichischen Yachtclubs mit über viertausend Mitgliedern zu suchen hat?
Darauf gibt es viele Antworten.
Zwei biete ich an. Erstens hat der YCA auch eine „Crew Bayern“ - so heißen bei uns die örtlichen Zweigstellen mit ein paar hundert Mitgliedern. Vor allem aber handelt es sich bei den Österreichern um ein liebenswertes Völkchen, in dem nationale Vorurteile keine oder zunächst nur ganz kleine Rollen spielen. Wenige Ausnahmen, wie zum Beispiel beim Fußball, Autorennen, Skifahren, vielleicht generell im Sport, bestätigen hier nur die Regel. Im Ernst: Die Hochseesegelei ist in Österreich erst seit einem Vierteljahrhundert zu Hause, obwohl die Seefahrt in Österreich eine große Tradition hat. Einst war die österreichische Kriegsmarine größer als die der kriegslüsternen Deutschen. Das waren die seligen Zeiten der k.u.k.- Monarchie, als Österreich ein richtiger Küstenstaat an den Mittelmeergestaden war. Trotzdem: Minderwertigkeitsgefühle gegenüber ihren Nachbarn deutscher Sprache sind bei meinen österreichischen Freunden unübersehbar. Deshalb entwickeln sie auch einen besonderen Ehrgeiz, es den Nordlichtern im Segeln zu zeigen. Und siehe da, nach zwei Jahrzehnten Training in punkto Seemannschaft haben sie nach meiner Meinung (die hatte ich schon vor meiner Zeit als Commodore) Segler aus dem hohen Norden im allgemeinen überholt. Man besuche nur mal Kroatien, heute schlechthin das Heimatrevier der Österreicher (es gibt sogar eine YCA-Crew „Kroatien“), um in den engen Häfen die An- und Ablegemanöver der Segelyachten zu beobachten. Im allgemeinen schneiden die Yachten mit der rot-weiß-roten Flagge am Heck glänzend ab. Ich wünsche unseren Küstenseglern aus dem Norden einmal dieses Erlebnis. Sie werden vor allem über die Bootsgrößen staunen, die dort unten am Mittelmeer von österreichischen Urlaubsseglern bewegt werden. Wenn bei uns an der Küste der Schnitt bei neun bis zehn Metern liegt, dann halten die Alpensegler 12 bis 15 Meter für normal.
Wie alle, die Angst davor haben, sich vor ihren Nachbarn zu blamieren, haben meine österreichischen Freunde das Niveau ihrer Führerscheine so hoch geschraubt, dass wohl jedes Hochschulstudium leichter ist, als den österreichischen Segelführerschein für den Fahrtenbereich 4 (das ist die weltweite Befähigung) zu erwerben. Ich jedenfalls bin froh, mich einer solchen Prüfung nicht mehr unterziehen zu müssen. Sicher würde ich da durchfallen. Wahrscheinlich in Gesetzeskunde!
Dank der durch den YCA gebotenen Ausbildung ist der Leistungsstandard seiner Mitglieder im Hochseesegeln unvergleichlich hoch. Dies schlägt sich auch in der Tatsache nieder, dass der YCA eine ganze Reihe von Weltumseglern hervorgebracht hat.*
* Allen Mitgliedern steht dieser riesige Erfahrungsschatz offen. Wer sich für den YCA näher interessiert, wende sich an das Generalsekretariat des YACHT CLUB AUSTRIA in A-4020 Linz, Estermannstraße 6, Telefon 0043 732 781086.
Also jetzt wird es vielleicht verständlich, wie stolz ich darauf bin, diesen 4000 Seglern und Motorbootfahrern vorstehen zu dürfen. Mit dieser Zahl ist der YCA der zweitgrößte Verein dieser Art in Europa. Erst recht dann, wenn man den CRUISING CLUB SUISSE mit seinen 6000 Mitgliedern dazurechnet. Zwischen beiden Clubs besteht nämlich ein Freundschaftsvertrag, was zur Folge hat, dass jedes Mitglied im YCA gleichzeitig auch im CCS Mitglied ist.
Klar, dass sich auch die sportlichen Veranstaltungen des YCA sehen lassen können. So veranstaltet der YCA jährlich den „Austria Cup“, eine Regattaveranstaltung, die ihresgleichen im Mittelmeer sucht. Nahezu hundert Hochseeyachten kämpfen dort um den ansehnlichen Cup. Sogar die (aus meiner Sicht) nordlastige YACHT konnte da nicht mehr umhin, Notiz davon zu nehmen und entsandte zur Berichterstattung meinen Freund Christoph Schumann. Und ebenda hatte Christoph bei einigen Achterln Rotwein (doppelt) seine Idee vom „Skipper des Jahres“ entwickelt, die hier in Polynesien ihr Ende fand.
Bis zur Ankunft von Renate und Peter blieb noch Zeit für einen Besuch in Faaa, so heißt der Flugplatz von Papeete. Ich nahm mir einen Truck. Dieses Verkehrssystem von Polynesien hat noch jeden Besucher fasziniert. Die Trucks halten überall im dichtesten Verkehr, um auch nur einen einzigen Mitfahrer aufzunehmen. Genauso ist es beim Aussteigen. Der Fahrgast drückt auf einen Klingelknopf über der hölzernen Sitzbank, und schon nickt vorne der Fahrer zum Zeichen, dass er sofort anhalten wird. Vor dem Aussteigen drückt man noch der Beifahrerin, meist die Frau des polynesischen Chauffeurs, ein paar Münzen in die Hand. Das war es, und schon erreichte ich den Flughafen. Nichts hatte sich verändert. Über dem Schild „International Arrivals“ war immer noch zu lesen: „Liebe Besucher: In Polynesien ist es nicht üblich, Trinkgeld zu geben!“
Ich schlenderte durch die große Ankunftshalle und weiter am Met-Office und am Terminal für die halbstündigen Flüge nach Moorea vorbei. Gleich darauf stand ich im kleinen Büro des „Aero- Clubs Tahiti“, das ich schon so häufig am frühen Morgen betreten hatte, um Flugunterricht zu nehmen oder aber, später, eine Maschine für einen Flug durch die polynesische Inselwelt zu chartern. Über die Sekretärin hinweg sah ich durch die Tür zum Hangar die F-ODIV stehen, ein winziger Piper-Zweisitzer vom Typ „Tomahawk“, mit der ich nicht nur vor eineinhalb Jahrzehnten meine ersten Flugstunden absolviert hatte, sondern mit der ich zum ersten Mal alleine in der Luft war. Inzwischen waren weit mehr als tausend Flugstunden und mehrere Atlantiküberquerungen im einmotorigen Miniflieger vergangen.
Der Präsident des Aero-Clubs, ein kleiner Chinese, kam zufällig vorbei und freute sich, dass es ein ehemaliger Schüler seines Clubs fliegerisch so weit gebracht hatte. Ich fragte nach den Fluglehrern von damals, nach anderen Schülern, die ich gekannt hatte. Und nach der „Hotel Tango“, der F-ODHT, einer viersitzigen Piper, mit der ich zum ersten Male in die Tuamotus geflogen war. Aber da bekam der Präsident einen ganz traurigen Gesichtsausdruck.
Er erzählte: An einem Sonntagnachmittag waren zwei der vier Maschinen des Clubs in der Luft nahe dem Flugplatz. Der Fluglotse, wahrscheinlich war es ein sprachliches Mißverständnis, gab beiden Maschinen, darunter eben der FODHT, die Anweisung, zu einem ganz bestimmten Punkt zu fliegen. Sie trafen sich dort mit katastrophalem Ergebnis: Beide Maschinen zerschellten, und vier Menschen verloren ihr Leben.
Obwohl dieses Unglück schon ein paar Jahre zurücklag und ich die Menschen gar nicht kannte, schockte mich diese Geschichte. So häufig schon bin ich in der Fliegerei mit tödlichen Unfällen konfrontiert worden, auch mit Opfern aus dem eigenen Bekanntenkreis, dass ich die Behauptung, Fliegen sei sicherer als Autofahren, einfach nicht unterstreichen kann. Das mag in der Verkehrsfliegerei, in der professionellen Fliegerei, seine Gültigkeit haben, jedoch nicht, wenn Amateure ihre Pflichtstunden herunterfliegen. Ich halte die Fliegerei für erheblich schwieriger und deshalb auch für gefährlicher als Autofahren. 24 Stunden muss ein Privatpilot in zwei Jahren fliegen, um seinen Schein zu erhalten. Ich frage mich manchmal, ob sich zu mir einer ins Auto bei 250 Stundenkilometer auf der Autobahn setzen würde, wenn ich ihm erzählte, dass ich immerhin im Jahr 12 Stunden Auto fahre?
Der Präsident wies darauf hin, dass seit dieser Geschichte nur noch Piloten mit Clubmaschinen alleine fliegen dürften, die fließend Französisch sprechen. Das traf, obwohl ich jahrelang in dieser Gegend gelebt hatte, auf mich nun wirklich nicht zu, so dass ich mich fügen musste, obgleich es schon etwas paradox war, denn schließlich hatte ich an diesem Flugplatz von Papeete das Fliegen gelernt und war viele Stunden alleine durch die Gegend geflogen. Außerdem war ich mir sicher, dass kein amerikanischer Pilot der großen Jumbos, die täglich aus Los Angeles Tahiti anflogen, auch nur ein Wort Französisch konnte.
Gut, dann sollte eben der Fluglehrer des Clubs, Pierre, ein erfahrener Buschpilot, bei unseren Luftausflügen über die polynesische Inselwelt dabei sein. Jeder vernünftige Flieger empfindet die Mitnahme eines „Safety Pilot“, eines Sicherheitspiloten, als Vorteil, vor allem dann, wenn man im Ausland fliegt, wo es tatsächlich auf den kleineren Plätzen zu Kommunikationsproblemen mit den Fluglotsen kommen kann. Denn nur an den internationalen Plätzen und im kontrollierten Luftraum wird Englisch gesprochen. An den kleineren deutschen Plätzen wird der Funkverkehr auch in Deutsch und nicht in Englisch durchgeführt, warum sollte man dann in Bora Bora Englisch und nicht Französisch oder Tahitianisch sprechen?
Auf der SARITA tat sich derzeit nichts. Es war Gerhard am Freitagnachmittag nicht mehr gelungen, einen Mechaniker für die Maschine aufzutreiben. Aber einen Trost brachte er von seinem Spaziergang durch Papeete mit: Eine neue Yanmar-Maschine hätten sie da, die würde auch „nur“ 22000,-DM kosten. Na ja, im äußersten Notfall ...
Ich erinnerte mich an die Zeit, als ich zur Vorbereitung unserer ersten Weltreise ein paar Tage im Herstellerwerk unserer damaligen Schiffsmaschine zugebracht hatte. Als ich einen Mechaniker danach gefragt hatte, auf welche Maschinenreparatur ich mich besonders vorbereiten sollte, hatte er gemeint: „Das weiß ich nicht, an einer Dieselmaschine kann eigentlich nichts kaputt gehen!“ Warum aber mochte unser Yanmar nicht mehr? Fünftausend Stunden hatte er in etwa auf dem Buckel, viel im Vergleich zu einem Automotor, gar nichts für einen Lkw-Dieselmotor, der klaglos siebenstellige Kilometerleistungen vollbringen muss.
Nachts kamen Renate und Peter an. Sie brachten gute und schlechte Nachrichten mit. Schlechte Nachrichten kamen von meinem geliebten Yacht Club Austria. Ein Arbeitsgerichtsprozeß mit einer Angestellten stand an. Nicht gerade lustig, wenn man in der Südsee sitzt und sich jetzt plötzlich mit solchen Problemen rumschlagen muss. Eigentlich bin ich Beamter geworden, um derartigen Problemen, die sonst nur Firmenchefs ereilen, aus dem Wege zu gehen. Aber jede Münze hat eben zwei Seiten, und die schöne überwiegt bei weitem. Vor allem aber brachten Peter und Renate Schwarzbrot und Geselchtes mit. In Papeete gibt es praktisch alles, auf was man Appetit hat, doch Schmankerl aus der Alpenwelt sind nicht erhältlich.
Carla und ich halfen Peter und Renate beim Akklimatisieren. Wir fanden heraus, dass im Maeva Beach Hotel eine „Floor Dance Show“ mit Festessen lief. Es ist nicht so leicht, in Polynesien etwas typisch Tahitianisches, Folklore eben, zu erleben. Meistens wird das nur in den Hotels angeboten. Es wäre falsch, das als Touristennepp abzutun. Denn erstens gibt es in Tahiti keinen Massentourismus, und zweitens ist Polynesien dünn besiedelt. Tahitianer, die gut singen und tanzen können, sind nicht so zahlreich, dass jedes Dorf so eine Attraktion bieten kann. Deshalb gelingt es eigentlich nur den großen Hotels, derartige Shows zu organisieren. Mindestens die Hälfte aller Zuschauer sind dementsprechend Einheimische.
Der Besucher würde sich Illusionen machen, wenn er erwartete, in jedem Dorf zum berühmten „Schwein im Erdofen“ eingeladen zu werden. Das könnten sich die Einwohner dort gar nicht leisten, denn ein Schwein ist eine seltene Delikatesse, die vielleicht für eine Hochzeit zubereitet wird, bestimmt aber nicht für gelegentliche Besucher. Tahiti bietet sich den Touristen so, wie es ist, und nicht so, wie es die Touristen erwarten. Deshalb werden diese kleinen Feste auch nicht nur für die Besucher arrangiert.
Das war schon immer so, wie uns alte Stiche zeigen, auf denen der Empfang von James Cook dargestellt ist. Wenn heute Touristen mit Tänzen und Gesängen erfreut werden, bietet sich das gleiche Bild wie damals, mit dem einzigen Unterschied, dass die Besucher keine englischen Uniformen mehr tragen, sondern meist T-Shirts und Jeans.
Halt - noch einen Unterschied gibt es: James Cook hat recht zurückhaltend berichtet, dass ihm zu Ehren auch ein Menschenopfer gebracht wurde, ein Straßenräuber musste dran glauben. James Cook drückte sich nicht ganz deutlich aus, aber seine Aufzeichnungen lassen der Phantasie nicht viel Spielraum: Auch er hat aus Höflichkeit vom angebotenen Fleisch gekostet. Heutzutage wird nur noch Schwein gereicht, das, gut verpackt in große Blätter und Säcke, stundenlang unter heißem Sand gegart wurde. Übrigens nannten die Polynesier die Besucher auch „long pig“, also Langschwein ...
Das einzige, was mir bei diesen Festen noch nie gefallen hat: Bei den hinreißenden Tänzen der Polynesier ist es irgendwann nicht mehr zu vermeiden, dass sich die Tahitianer aus dem Zuschauerkreis Tanzpartner heraussuchen, ob die wollen oder nicht. Waren die Tänze vorher hinreißend ästhetisch und von mitreißendem Rhythmus, entartet der europäische Beitrag zum blöden Gehopse. Man sagt, dass die Autorität von William Bligh endgültig untergraben war, als er bei einem Fest mit den englischen Seeleuten von einer schönen Tahitianerin zum Tamure-Tanzen aufgefordert wurde, was beim hölzernen Kapitän Bligh nur im Gelächter der rauhen Seeleute enden konnte. Ich gebe es ehrlich zu, dass ich immer, wenn die Tahiti-Girls ausschwärmen, um aus dem Publikum Tänzer auf die Tanzfläche zu zerren, entweder zum Himmel starre, um einen ganz bestimmten Stern zu suchen oder, weniger elegant, dringend auf die Toilette muss. Die ahnungslose Renate dagegen wurde von einem braungebrannten polynesischen Jüngling mit schwarzem Haar und ebenmäßigem Gesicht kalt erwischt und musste Tamure tanzen, ob sie wollte oder nicht. Sie hat sich jedoch bestens aus der Affäre gezogen.
Mit dem Elektroboot um die Welt
Am Nachmittag holten uns Anette und Sven von der RAROIA mit ihrem Schlauchboot an der Pier ab, um uns ihr Schiff zu zeigen. Von der RAROIA hatte ich schon vorher in einer amerikanischen Yachtzeitschrift gelesen. Es ist selten, dass die amerikanische Segelwelt von einer deutschen Fahrtenyacht Notiz nimmt, doch die RAROIA war etwas Besonderes. Ihre Besatzung auch.
Weit draußen vor dem Maeva Beach Hotel lag das kleine Boot, dort, wo die Fahrrinne hinter dem Riff schon wieder hellgrün wurde. Das zeigte, dass diese Kielyacht recht wenig Tiefgang hatte. Eineinhalb Meter höchstens, schätzte ich. Schmal war sie auch, kurz sowieso. Keine 10 Meter war sie lang, wie mir ihr Eigner Sven mit deutlichem ostdeutschem Dialekt erklärte. Die RAROIA war aus Eisen gebaut, was für ein Schiff von dieser Länge heute ungewöhnlich ist. Die Geschichte Svens und seiner Anette könnten sich bei uns viele hinter die Ohren schreiben, die über die Trostlosigkeit in Deutschland jammern:
Die beiden stammten aus der ehemaligen DDR, wo Sven als Elektrotechniker und Anette als „Wartungsmechaniker für Datentechnik und Büromaschinen“ gearbeitet hatten. Zu deutsch: Sie reparierte Schreibmaschinen. Nach der Wende musste Sven erneut ein Examen ablegen, weil seine früheren Prüfungen nicht anerkannt wurden. Anette begann zu studieren. Jetzt waren beide fertige Elektroingenieure. Dieser Umstand ist erwähnenswert, weil er in ihrem Segelleben eine große Rolle spielen sollte. Mit ihren Ersparnissen, genau für 6000 Mark Westgeld, kauften sie sich das alte stählerne Segelschiff, das in der DDR sogar mal eine Meisterschaftsregatta gewinnen konnte, was wohl nur deshalb möglich war, weil ausschließlich Schiffe „made in DDR“ am Start sein durften. Schiffe, mit denen Privatpersonen auf dem Meer herumfahren konnten, waren ja wirklich suspekt und deshalb nicht gerade weit verbreitet.
Die RAROIA, die damals noch nicht so hieß, war mit einem altersschwachen Trabant-Motor ausgestattet, der selbst dem anspruchslosen Paar für größere Fahrten ungeeignet erschien. An eine Weltumseglung hatten sie ohnehin nicht gedacht, früher nur davon geträumt. Noch in der DDR hatte Sven ein Buch in die Hand bekommen, das eine entscheidende Rolle im Leben der beiden spielen sollte. Literatur, die Fernweh erzeugte, war in der DDR aus guten Gründen nicht gerade verbreitet, deshalb sog es Sven in sich hinein. Das billige Heftchen hieß „Kontiki“. Fast jeder kennt diese Geschichte, in der sich Thor Heyerdahl mit einem Balsafloß über den Pazifik treiben läßt und schließlich auf einer Insel in den Tuamotus, ihr Name war Raroia, strandet. Nach Raroia wollte auch Sven eines Tages kommen. Jetzt hatte er ein Schiff, geeignet für die Meere, und eine Mannschaft dazu. Klar, dass sich so einer nicht von einem kaputten Motor dazu verleiten läßt, sein Ziel aus den Augen zu verlieren.
Ihr Beruf als Elektroingenieure stellte nun Sven und Anette vor die Frage: „Warum eigentlich kein Elektromotor?“ Der wäre jedenfalls um vieles preiswerter als ein Dieselmotor für ihre kleine Segelyacht. Ich hätte mich mit diesem Problem niemals auseinandergesetzt, keinen Gedanken daran verschwendet. Denn wenn dies praktikabel wäre, müsste es jede Menge Yachten mit Elektroantrieb geben. Ich hatte aber vorher noch nie eine getroffen. Jetzt saßen Carla und ich in der kleinen Kajüte der RAROIA, aßen Kuchen, den Anette gebacken hatte (nicht elektrisch), und Sven hatte in der Hand einen solchen Elektromotor, der sein Schiff fast lautlos (wie er mir mal schnell demonstrierte) antrieb. Erstmalig war ich auf einer Yacht mit einer Ersatz-Hauptmaschine. Sie hatte Form und Größe eines flachen, geschlossenen Kochtopfes und wog vielleicht 10 Kilogramm. Die dazugehörigen Gel-Blei-Batterien allerdings hätten sieben Zentner auf die Waage gebracht.
Es führt zu weit, hier das genaue technische Konzept dieses Antriebs und der Stromversorgung zu erklären. Mehr als 50 Seemeilen Reichweite sind bei vollgeladenen Batterien nicht drin, und die Ladung stammt von einem Windgenerator. Also sicher nicht jedermanns Sache, schon gar nicht, wenn es mit der Seemannschaft nicht stimmt. Aber Sven mit seinen dreißig Jahren und Anette, 26 Jahre jung, befanden sich nun schon im dritten Jahr auf Weltumseglung und mit einem finanziellen Hintergrund, der bei manch anderem Existenzängste aufkommen ließe, speziell in unserem Sozialstaat mit doppeltem Netz.
Sven verdiente zu ihren Ersparnissen mit Elektroreparaturen auf anderen Yachten etwas hinzu. 15 bis 20 Dollar berechnete er, „natürlich nur bei Erfolg, denn sonst ist das doch Betrug“. Aber lieber sei es ihm, meinte er, wenn man nichts bezahlen, sondern etwas tauschen würde, das passe doch besser zur Segelkameradschaft. Vier Jahre sollte die Weltumseglung der beiden dauern. Wenn sie eines Tages nach Deutschland zurückkommen, ob sie dann wohl das Gefühl haben, hier etwas versäumt zu haben?
Felszinnen in der Südsee
Am Sonntag standen Peter und ich schon um fünf Uhr morgens auf. Wir wollten um sechs Uhr ins Gebirge Tahitis fliegen. Um diese Zeit besteht die einzige Chance, die Bergspitzen zu sehen, denn später kommt der Wolkenflaum und legt sich regelmäßig über das Gebirge. Pierre war schon da, und wir zogen gemeinsam die „Piper Arrow“ aus dem Hangar. Der Flieger war schon 30 Jahre alt, aber das besagt nichts über seine Qualität und vor allem Sicherheit. Denn alle Flugzeuge in der Welt unterliegen strengsten Wartungsvorschriften, und so kann der Charterer immer davon ausgehen, dass die gecharterte Maschine in technisch einwandfreiem Zustand ist, freilich die Seriosität des Vercharterers vorausgesetzt. Das war beim Aero-Club von Tahiti gar keine Frage. Wenn mit Kleinflugzeugen etwas passiert, dann ist fast immer ein Pilotenfehler die Ursache des Unglücks. Ich habe es auch einmal erleben müssen, dass durch meinen Fehler beinahe Menschen zu Schaden gekommen wären, aber davon später.
Die Landebahn von Tahiti beginnt und endet im Meer. Sie ist die einzige Verbindung zu den fünf Kontinenten.
Wie immer bei Starts am frühen Morgen war die Luft extrem ruhig, und so schienen wir trotz des lauten Motorengeräusches über die drei Kilometer lange Startbahn von Tahiti zu schweben. Dann ging es über dem Riff an der Küste entlang, die noch im Morgenschatten lag. Ich hatte die Berge von Tahiti bisher ganz selten völlig frei gesehen, und deshalb war ich noch nie ins Gebirge geflogen, obwohl ich über Tahiti einige hundertmal in der Luft gewesen bin. Peter auf dem Rücksitz konnte es nicht glauben, in der Südsee und gleichzeitig in einer Art Alpenlandschaft herumzuschweben. Der Vergleich mit unseren heimatlichen Bergen ist nicht weit hergeholt. Denn deren Höhe, vom Tal aus gesehen, ist ungefähr die gleiche wie die Berge Tahitis, die bis zweieinhalbtausend Meter hoch in den Himmel ragen, direkt von der Meeresoberfläche aus.
An Steilheit stehen die Granitkolosse in der Südsee den Dolomiten in nichts nach, obwohl sie etwas lieblicher, fast pelzbesetzt wirken. Blanke Felsen sind selten, meist sind die Gipfel noch begrünt. Gelegentlich fanden wir oben regelrechte Löcher in den Bergen, wir konnten tatsächlich durch den Gipfel durchblicken. Die Versuchung stieg in einem hoch: Man könnte doch mit dem Flugzeug ...
Gut, dass wir in Begleitung des erfahrenen Piloten Pierre waren. Der hatte nicht nur in den Büschen Afrikas jahrzehntelang Dienst getan, sondern auch schon 500 Flugstunden (viele Privatpiloten erreichen diese Stundenzahl in ihrem ganzen Leben nicht) im Gebirge zugebracht und wußte deshalb sehr wohl, auf welcher Seite der Wand mit Aufwinden und wo mit gefährlichen Abwinden zu rechnen war. Er konnte gut abschätzen, ob wir in ein Tal, das sich gegen Ende verjüngte, einfliegen konnten, ob am Ende des Tals, wo es für eine Umkehr zu eng geworden war, die Steigleistung der Maschine ausreichen würde, um nach oben über den Bergsattel zu entkommen. Pierre flog uns so nahe an die Abgründe heran, dass wir oben auf den Gipfeln die Palmen zählen konnten. An den Wänden sahen wir gelegentlich den Schatten unserer kleinen Einmot.
Die Natur bot faszinierende Bilder. Früh am Morgen waren die Schatten der Berge noch so hart und kontrastreich, dass man gelegentlich nicht zwischen Bergen oder nur deren Schatten unterscheiden konnte. Wir sahen Gebirge im Gebirge, unwirkliche Felsmassive, gigantische Gesteinsbrocken, das Fundament schmaler als oben die Felsplattform. Ganz so, als ob irgendwann in grauer Vorzeit ein Riese mit seinem Felsspielzeug keine Lust mehr gehabt und alles einfach umgeschmissen hätte.
Dann krochen über die Felskanten weiße Flaumdecken hoch und begannen, die Felszacken zum Himmel zu überziehen. Pierre beugte sich zu mir rüber und schrie mir ins Ohr: „Das gibt viel Wind, laß uns hier verschwinden!“ Der Höhenmesser zeigte 9000 Fuß, und so stellte ich die Landeklappen wieder auf Null (wir hatten sie aus Sicherheitsgründen gesetzt, um langsamer fliegen zu können) und setzte die Motorleistung für den Descent. Wir schwebten die paar Minuten nach Moorea, der Schwesterinsel von Tahiti, hinüber, von der viele meinen, sie sei die schönste Insel der Welt. Gilt dies schon vom Wasser aus, dann erst recht, wenn man sich in der berühmten Cooks Bay oder in der Opunohu Bay befindet. Es wird alles übertroffen, wenn man zwischen den steilen Zinnen hindurchfliegt. Auch hier wieder ein markantes Loch im Berggipfel, das war der Tigertooth-Berg, und tatsächlich ähnelte er dem Reißzahn eines Tigers.
Die Sonne stand jetzt schon etwas höher, so dass das Riff von unten heraufleuchtete und uns wie magisch anzog. Im Steilflug stürzten wir die Cooks Bay hinunter. Ich musste auf die Nadel meines Speedometers achten, denn die näherte sich der lebensgefährlichen roten Never-Exceed-Linie, und so hatte ich keine Sekunde Zeit, schnell einen Blick auf unser früheres Grundstück auf der rechten Seite der Bucht zu werfen. Kurze Zeit später hatte uns das Gebirge von Moorea ausgespuckt, und wir schwebten nach einer Rechtskurve auf die Bahn von Tahiti, hinter dem Riffgürtel, zurück. Mit einem Tiefdecker wie der „Piper Arrow“ ist die Chance für eine erfolgreiche Notwasserung bei Maschinenausfall besser. Notlandeplätze an Land gibt es kaum.
Als Peter und ich wie betäubt von dieser atemberaubenden Landschaftskulisse aus dem Flieger stiegen, war es noch recht kühl, keine dreißig Grad im Schatten, weil die Sonne immer noch niedrig stand. Ich hatte fliegerisch schon einiges erlebt, aber noch keinen so schönen Flug. Auch Peter war ganz verwirrt, denn unter Südseeflügen stellt man sich gemeinhin viel Meer, Sandstrände und smaragdgrüne Tauchgründe aus der Luft vor, keine Hochgebirgsmassive. Aber ich beruhigte Peter und stellte ihm in Aussicht, nach unserem Segeltörn durch „die schönsten Inseln dieser Welt“ noch zusätzlich einen richtigen Südseeflug zu machen, nach Huahine, Raiatea und vielleicht auch nach Bora Bora.
Ich bestellte gleich die Maschine, mit der wir jetzt geflogen waren, nämlich die F-ODUY. Denn der Aero-Club von Tahiti hat seit dem tragischen Unfall nur noch wenige Flugzeuge, die so ausgerüstet sind, dass man über das offene Wasser fliegen darf. Es ist ohnehin aus europäischer Sicht ein ganz ungewöhnliches Flugrevier, denn immer wenn es über Tahiti hinausgeht, ist ein Flug über das offene Meer angesagt, ohne jede Notlandegelegenheit an Land. Dort gibt es nur Riffe oder enge Straßen, dichtbewachsen mit Palmen. Ich kenne genügend Piloten, die unter diesen Umständen mit einmotorigen Flugzeugen überhaupt nicht fliegen würden. Denn immer setzt man sein Leben auf einen einzigen Motor!
Heimkehr
Die Feste waren im Gange. Wahrscheinlich wußte kein Tahitianer, warum er eigentlich feierte. Das war ihm auch völlig gleichgültig. Selbst wenn man ihm erzählt hätte, dass die Feiern anläßlich des Ausbruchs der Französischen Revolution vor mehr als 200 Jahren stattfinden, wäre es ihm egal gewesen: Hauptsache, es wurde gefeiert! Den ganzen Tag fanden Umzüge und Tanzereien statt. Die Ruderwettbewerbe im Hafenbecken von Papeete verliefen wenige Meter vor unserer Ankerkette. Unzählige Mannschaften waren am Start, selbst ein Studententeam aus Amerika versuchte mit seinen Stechpaddeln mit den kräftigen polynesischen Burschen Schritt zu halten, was ihnen weniger gelang als einer amerikanischen Universitätsmannschaft vor einigen Jahren. Die waren in ihrem geliehenen Auslegerboot so schnell gewesen, dass sie den Lokalmatadoren davonfuhren. Das hätten sie besser unterlassen, denn für die weiteren Läufe stand plötzlich kein Leihboot mehr zur Verfügung. Mögen die Tahitianer alle liebenswürdigen Eigenschaften der Welt in sich vereinigen, aber gute Verlierer sind sie nicht.
Am Montag sollte nun der Mechaniker für die Maschine kommen, aber er kam nicht. Er ließ sich auch am Dienstag und am Mittwoch nicht blicken. Auch der Fahrtensegler hat nicht uneingeschränkt Zeit, und so begannen wir wieder an die Launen von Maschinen zu glauben. Wir logen uns in die eigene Tasche, die Zeit rann uns nämlich davon. Ich hatte Peter vom Problem mit der Maschine erzählt. Er fuhr das Anlegemanöver am Tankstellensteg. Es kam, wie es vorherzusehen war. Als er im Rückwärtsgang zur Pier motoren und die Fahrt mit einem kurzen Schub nach vorne aus dem Schiff nehmen wollte, starb die Maschine ab. Die harte Betonkante verfehlte das Badeheck der SARITA nur knapp. Dann motorten wir langsam zur Schwesterinsel Moorea.
Carla und ich waren aufgeregt. Was war aus unserem Grundstück geworden? Als wir am Außenriff von Moorea so dicht entlang motorten, dass manchmal hellgrüne Flecken vom Grund hochschimmerten, kam als erstes der Berg in Sicht, der bis zur obersten Spitze uns gehört hatte. War er mit Villen zugepflastert worden? Schließlich war damals fast für jeden Tag der Ausbruch des Massentourismus auf Polynesien erwartet worden. Aber als der ganze Hang vor uns lag, wurde uns klar, dass in den letzten eineinhalb Jahrzehnten überhaupt nichts geschehen war. Nach wie vor war der Berg über und über mit Gestrüpp bewachsen und auch der Fleck, den ich in einem mutigen Moment mit der Baumsäge tagelang leergerodet hatte, war zugewachsen; hier hatte die Natur sich die paar hundert Quadratmeter wieder geholt. Nur eine riesige Bake stand jetzt am Berg, die zusammen mit einer zweiten auf dem Riff eine Linie durch den Paß bildete und so die großen Passagierdampfer in die Cooks Bay lotste.
Unten, auf unserem ehemaligen Grundstück, stand ein Dutzend Bugalows. Sie machten schon keinen neuen Eindruck mehr, obwohl sie erst ein paar Jahre alt sein konnten. Ich entdeckte ein Schild, da stand etwas von einem „Club“ drauf, was aber nichts besagt, denn in der Südsee heißt jede Ansammlung von mehr als zwei Hütten für die Touristen „Club sowieso“. Das wichtigste aber war, dass die Hütten offensichtlich leerstanden. Dabei war Hochsaison! Mein erster Gedanke war: „Da hast du nichts versäumt, dass du nicht in der Südsee geblieben bist“, ja, irgendwie war ich zufrieden. Denn es wurde mir bewußt, dass ich damals die einzig richtige Entscheidung getroffen hatte, als wir wieder nach Europa in unser „normales“ Leben zurückgesegelt waren. Peter und Renate als Urlauber fanden die Landschaft der Cooks Bay - Werbeslogan: „meistfotografierte Bucht der Welt“ - wunderschön.
Yachten gab es in der Bucht ebenfalls. Neben ein paar Dauerliegern, man erkannte es an der Muring statt dem Anker, waren vielleicht fünf Besucheryachten da, soviel wie früher auch, obgleich Platz für fünfhundert gewesen wäre. Wir blickten von unserem Ankerplatz hinten am Dorf Pao Pao auf das kleine Hotel zur Linken.
Früher hieß es "Aimeo“, jetzt „Bali Hai Club“. Es stand, wie wir hörten, zum Verkauf. Gäste sahen wir keine.
Karl Vettermann hatte das Hotel in seinem Buch „Hollingers Lagune“, der Cooks Bay, mit viel Leben ausgestattet, jetzt wirkte es vereinsamt. Am Abend fuhren wir mit dem Beiboot zu einem kleinen Fischlokal, direkt am Wasser. Wir fragten nach Gene Shelcher. Die Tahitianerin, die uns bediente, versprach uns, sie anzutelefonieren.
Gene und ein Telefon? Als wir sie zum letzten Mal besucht hatten, gab es in ihrer Hütte, tief im Wald, nicht einmal elektrisches Licht. Und statt einer UV-Lampe gegen die Mücken, die überfallartig um vier Uhr nachmittags auftauchen, wurde Gin aus der Flasche gereicht. Nicht zum Einreiben, sondern um sich gegen die juckenden Stiche zu betäuben.
Am anderen Tag holte uns Gene in ihrem Landrover ab. Gene und ein Auto? Ja, Gene war umgezogen. Sie konnte es, wie sie erzählte, nicht mehr ertragen, dass ihr Pferd jedesmal in Panik geriet, wenn es Gasflaschen über die kaum passierbare Straße transportieren sollte. Aber sonst hatte sich Gene nicht verändert. Ihr sonnengegerbtes Gesicht war energisch geblieben, aber nicht älter geworden. Und sie war umgezogen in ein schönes Haus mit direktem Blick auf den Tigertooth. Sie wohnte jetzt an einer richtigen Straße, die jedenfalls in einem so guten Zustand war, dass es der Landrover gerade schaffte. Im Haus wimmelte es von Katzen und Hunden, lauter „Survivors“, also Uberlebenskünstler, wie Gene sie nannte, denn es waren ausschließlich Findlinge. Das Haus war ein einziges großes Atelier mit Dutzenden von Genes Bildern. Sie strahlte. Offensichtlich gingen ihre Bilder mit lokalen Motiven immer noch sehr gut. Die Tahitianer seien ihre treueste Kundschaft, und sie würden gut zahlen, betonte die Witwe des irakischen Ölministers.
Die Ölgemälde zeigten tahitianische Motive, nichts Abstraktes. Alle Bilder hatten einen Schuß Humor, mal war es eine schwangere Braut, mal ein angetrunkener Tahitianer. Die Bilder gefielen mir, obwohl ich nichts von Malerei verstehe. Möglicherweise habe ich Gene deshalb nach Paul Gauguin gefragt, der ja in Europa schlechthin als der Maler Tahitis gilt. Aber an dem ließ Gene kein gutes Haar. Ja, als Kolorist sei er sensationell gewesen. Aber, oh je, seine Bilder! Nicht mal die Anatomie der Arme würde stimmen! Und menschlich gesehen sei er ekelhaft gewesen. Nicht nur äußerlich mit den großen Geschwüren an den Beinen. Der Dreckskerl sei nur hinter den kleinen Mädchen auf den Marquesas hergewesen. Ich wurde nachdenklich. War dies vielleicht der Grund, warum auf den Marquesas-Inseln niemand Gauguin mit Namen nennt? Vielleicht stimmt es gar nicht, dass sie „den berühmten Maler“ nicht kennen. Wollen sie ihn nicht mehr kennen?
Genes Gemälde brachten ihr leicht soviel Geld, dass sie gelegentlich dem Inselkoller entgehen konnte. Das war ihr Rezept: immer soviel Geld griffbereit haben, um von heute auf morgen ins Ausland, nach London zum Beispiel, fliegen zu können. Sie begründete ihren Drang, ab und zu vom Aussteigen aussteigen zu müssen, auch mit der Gesundheit. Das Klima in den Tropen sei schwer zu ertragen. Man müsse von Zeit zu Zeit in kältere Gegenden, damit die vielen Lebewesen im Blut, die in der Hitze der Tropen herrlich gedeihen, absterben würden.
Gene hatte ein abenteuerliches Leben hinter sich, da kommt man vielleicht auf solche Gedanken. In ihrem Lebenslauf fand sich sogar eine „Segelepoche“ mit Ulf. Der schwedische Einhandsegler Ulf hatte uns schon vor einem Vierteljahrhundert in Durban erzählt, dass er gelegentlich von einer Kunstmalerin Besuch bekomme. Jetzt saßen wir der „Kunstmalerin“ gegenüber. Sie lachte, als wir feststellten, dass ihre Segelepisode und die „Kunstmalerin“ ein und dieselbe Geschichte waren. Ulf war inzwischen gestorben. Tot hatten sie ihn in seinem Schiff aufgefunden. Niemals kam heraus, was ihm wirklich zugestoßen war. Gene erinnerte daran, dass sie Ulf schon einmal das Leben gerettet hatte. Auch diese Geschichte kannten wir von der anderen Seite, Ulf hatte sie in einem größeren Kreis von Yachties bei einem Roundtable-Gespräch für die YACHT zum besten gegeben: „Ich hatte ein Mädchen an Bord, das keine Ahnung vom Segeln hatte. Die Yacht lief vor Passatsegeln, die ohnehin tödlich bei einem Mann-über-Bord-Manöver sind, weil es eine Ewigkeit dauert, bis man sie unten hat. Eines Nachts fiel ich beim Pinkeln über die Reling. Unterm Vollmond sah ich, wie mein Schiff sich unter den Zwillingsfocks entfernte. Ich sah es über den Horizont davonsegeln ...“
Gene lachte: „Ich hatte tatsächlich keine Ahnung, wie ich diese beiden Segel runterholen sollte. Ich geriet in Panik und wußte nicht, was ich tun sollte. Es war ein Wunder, dass ich irgendwie das Schiff anhalten konnte und Ulf nach vielen Stunden an Bord gekrochen kam. Es war überhaupt komisch mit Ulf. Als er in seine schwedische Heimat zurückkehrte, war er ein gefeierter Einhandsegler. Ehrlich, er war es auch, denn an Bord stand ich eigentlich nur im Weg, konnte beim Segeln nicht mithelfen. Trotzdem durften die Leute natürlich nicht wissen, dass ich streckenweise mit an Bord war. Als nun Einhandsegler Ulf Lichtbildervorträge in Schweden hielt, begleitete ich ihn, musste mich aber immer verstecken.“
Das richtige Südsee-Feeling
Nachmittags liefen wir aus der Cooks Bay raus, segelten gleich beim nächsten Paß in die Opunohu Bay wieder hinein. Ich konnte Moorea nicht verlassen, ohne Renate und Peter den Ankerplatz zu zeigen, dessen Bild wohl die meisten Yachtleute auf eine Weltumseglung gelockt hatte. Ich wußte noch genau, wann ich zum ersten Mal das Foto von Eric Hiskock in der Robinsons Cove, der hintersten Ecke dieser Bucht, gesehen hatte. Die Achterleinen von seiner WANDERER III zu den Palmen waren schlechthin das Symbol für romantisches Fahrtensegeln. Wir wollten dieses Foto mit der SARITA wiederholen, doch der Platz war schon von einer kanadischen Yacht besetzt. So drehten wir ein paar Kreise und liefen wieder nach draußen aufs offene Meer. Kurs Huahine lag an. Die Abfahrtszeit hatten wir so gewählt, dass wir morgens in Huahine einlaufen könnten.
Wie erwartet, hatten wir guten Wind. Die SARITA lief manchmal acht Knoten, hätte sicher auch schneller sein können, aber wir wollten erst bei Tageslicht am Riff sein. Außerdem lief eine hohe Dünung hinter uns her. Renate erwischte es bald, mir war auch nicht besonders gut. So waren wir froh, als wir mit dem ersten Licht am Riff waren und schließlich nach Huahine einliefen. Von vielen Insidern wird diese Insel am meisten geliebt. Sie ist die bescheidenste der berühmten Gesellschaftsinseln. Keine hohen Berge wie in Tahiti, Bora Bora oder Moorea ragen gegen den Himmel. So kommen die Ankerplätze früher ins Sonnenlicht, und es regnet weniger, weil nicht so viele Wolken an den niedrigen Gipfeln hängenbleiben. Hinter dem Riff ist das Wasser so tief, dass man wie in einem breiten Fluß fast um die ganze Insel herumfahren kann. Zahlreiche Ankerplätze bieten sich bei jedem Wetter an. Platz wäre für tausend Schiffe, ein paar Dutzend verteilen sich hinter dem Riff. Nur „in der Stadt“ gibt es manchmal etwas Gedränge. Vor dem Dorf ist das Ankern verboten, weil alle paar Tage größere Schiffe kommen und den Platz vor der Pier zum Drehen brauchen. Dafür kann man gelegentlich schnell mal an die Pier, um Wasser mit dem Schlauch überzunehmen oder einzukaufen. Will man unbedingt am Dorf bleiben, so geht man vor dem „Bali Hai“ vor Anker, so wie die meisten Besucheryachten. Wenn dort 10 bis 15 Yachten liegen, kann es etwas eng werden. Der Ankergrund ist schlecht, so dass viel Kette gesteckt werden muss und dementsprechend der Schwojkreis groß ist.
Drei bemerkenswerte Yachten sahen wir vor dem Hotel liegen, einen wunderbaren Schoner mit leicht nach achtern geneigten Masten, wie man ihn heute nur noch selten sieht, die Ketsch KAPDUVA, unverkennbar ein Hongkong-Clipper, und einen riesiger Katamaran mit vielen Leuten drauf und österreichischer Flagge am Heck, unschwer als Charteryacht zu erkennen. Die Segler waren erst ein paar Tage unterwegs und dementsprechend noch etwas verunsichert. Eine der Damen, mit deutlichem Sonnenbrand auf der Nase, meinte, das richtige Südsee-Feeling habe sich noch nicht eingestellt. Ich fragte zurück, was sie darunter verstehe und wußte im gleichen Moment, dass sie mir keine Antwort geben würde. Wie oft hatte ich das von Südseebesuchern schon gehört, wie oft habe ich enttäuschte Touristen getroffen!
Der Reiz „der Südsee“ liegt vor allem darin, dass sie vom Massentourismus ziemlich unbeleckt ist. Die Kehrseite davon ist die fehlende Infrastruktur für Touristen. Ganz schlimm trifft es diejenigen Besucher, die wenig Zeit, dafür einige Regentage mitbringen. Nette Freunde, die uns einmal in Moorea besucht hatten und in eine richtige Regenperiode geraten waren, reisten nach einer Woche mit den Worten ab: „Moorea wünsche ich meinem ärgsten Feind nicht!“
Auf den Gesellschaftsinseln (Tahiti vielleicht ausgenommen) gibt es eben keine zünftigen Touristenschuppen; Diskos, auch der Zeitungsstand mit der BILD-Zeitung fehlen. „Gemütliche Kneipen“ kennt der Polynesier nicht und braucht sie auch nicht, denn wenn er feiert, dann geschieht das unter einer Palme, mit Gitarre.
Ukulele sowie Unmengen von Hinano-Bier. Wenn also der Besucher auf die Hilfe von Animateuren angewiesen ist, um so richtig in Urlaubsstimmung zu kommen, dann sollte er besser in den Club Med nach Bora Bora oder Moorea gehen, vielleicht kommt dann das richtige Südseegefühl auf. Mit Südsee hat dies aber nichts zu tun. Südseezauber läßt sich nicht für zwei Wochen bestellen wie Halbpension. Der kommt von selber und zwar zu dem, der ihn sich verdient, nicht zu dem, der ihn krampfhaft sucht. Zu manchen nie, andere sind von der ersten Stunde gefangen und kehren immer wieder nach Polynesien zurück.
Das versuchte ich den Charterern also klarzumachen. Sie erzählten verständnisvoll, dass sie noch drei Wochen Zeit hätten. Sie hatten eine gute Chance, einen tollen Segelurlaub zu erleben, denn das Dreieck Huahine, Raiatea und Bora Bora ist nicht groß, notfalls in vier Tagen abzusegeln, bietet aber Hunderte von traumhaften Ankerplätzen, jedoch ohne Kneipe am Strand. Bei drei Wochen Zeit könnten sie auch nach Moorea segeln, schlug ich vor. Die hundert Meilen könnten hart werden, denn vielleicht ginge es gegenan. Der Skipper, ein Münchner, schüttelte den Kopf: „Nach Moorea werden wir nicht segeln, da ist das Wasser so schlecht!“
Das war neu für mich. „Wer hat Ihnen denn den Schmarrn erzählt?“ Die Antwort, das sei eine Auskunft des Vercharterers, ließ mich schmunzeln. Klar war es der Charterfirma lieber, der Kat treibt sich, meist unter Motor, in den geschützten Riffgewässern von Raiatea und Tahaa herum, als dass er zwei bis drei Tage gegen starken Wind und hohe Dünung nach Moorea anbolzt. Immerhin hatte die THALASSA II sich bei dieser Strecke auch einmal den starken Klüver zerfetzt. Trotzdem fand ich die Warnung des Vercharterers vor dem schlechten Wasser in Moorea (Pestgefahr?) doch etwas zu dramatisch. Der Hinweis auf die Seekrankheit bei diesem Gewalttörn hätte doch auch genügt.
Der Anblick des hölzernen Schoners, meiner Schätzung nach gebaut in den dreißiger Jahren, war allen vertraut, die schon einmal ein Foto von der Reede von Huahine gesehen hatten. Sogar auf einem deutschen Segelbuchprospekt kann man diesen unverkennbaren Zweimaster auf pastellblauem Wasser liegen sehen. Ich wußte zumindest, wem er früher einmal gehört hatte. Direkt am Strand, genau zwischen dem Dorf (und „Hauptstadt“ von Huahine) und dem Hotel Bali Hai stand nämlich immer noch die Hütte, die Carla und ich als die schönste Snackbar der Welt bezeichnet hatten, weil es dort so gute Hamburger gegeben hatte. Die Bar wurde vor vielen Jahren von einer hübschen Polynesierin und ihrem Mann, einem Amerikaner, betrieben. Das Haus stand jetzt leer, kein Barbetrieb spielte sich dort mehr ab. Aber die Yacht dieses Amerikaners, eben der Schoner, lag noch auf der Ankerreede. Uns war diese Snackbar auch deshalb noch so gut in Erinnerung, weil die Wirtin sich gelegentlich ihren Gästen zu sehr widmete. Spät am Abend, als die Lichter in der Snackbar längst erloschen waren, rumste es im Rumpf des Schoners, und deutliche Schreie einer Frau hallten über die Ankerreede. Aber ob das Schiff immer noch dem gleichen Eigner wie früher gehörte, war nicht zu erkennen. Es machte einen unbewohnten, etwas heruntergekommenen Eindruck, und es war nicht zu übersehen, dass das Geld nicht mehr zum Unterhalt dieses einst wunderschönen Schiffes reichte.
Die KAPDUVA, den Hongkong-Clipper, kannten wir gut. 1972 hatten wir ihn im Hafen von Hellville, der Hauptstadt von Nosse Be, einer Insel nördlich von Madagaskar, getroffen. Vor allem lernten wir damals ihre Eigner Esther und Steve kennen, mit denen wir später noch auf vielen Plätzen zusammen waren. Steve war ein Seemann aus Stahl, der mit dem Rahsegler KRONPRINZESSIN CECILIE, auf der er im zarten Alter von 14 Jahren angeheuert hatte, in den dreißiger Jahren um Kap Hoorn segelte. Als sich der Seemann im Ruhestand die KAPDUVA in Hongkong bauen ließ, war es für ihn selbstverständlich, dass ein Segelschiff eben so gehandhabt wird, wie er es bei seinen Fahrten ums Kap Hoorn gelernt hatte. Deshalb besaß die KAPDUVA bei ihrer Weltumseglung weder ein Radiogerät noch eine Selbststeueranlage.
Ein Jahrzehnt später hatten wir die KAPDUVA wieder getroffen, als wir in die Cooks Bay in Moorea eingelaufen waren. Aber Steve und Esther waren nicht mehr an Bord. Man hatte Steve nach Kanada heimgeflogen, weil sein Herz ein paar Bypässe benötigte. Das Ergebnis der Operation hatte Steve tief befriedigt. Schließlich war er jetzt wieder in der Lage, selber in den Mast seiner KAPDUVA ZU klettern, um die regelmäßigen Lackierarbeiten vorzunehmen. Außerdem konnten Esther und Steve die KAPDUVA wieder ins heimatliche Kanada segeln.
Dann hatte für Steve und Esther die Zeit begonnen, wo sie einsehen mussten, dass auch Seeleute aus Stahl von einem 15 Meter langen Holzschiff überfordert würden, wenn sie sich den Achtzigern näherten. Wir hatten Esther und Steve einmal in Avignon getroffen, als sie sich gerade auf dem Weg zum Treffen der Kap Horniers befanden. Mit viel Traurigkeit hatten sie uns erzählt, dass die KAPDUVA nunmehr zum Verkauf stünde. Sie würde aber nicht an jeden abgegeben, ein echter Seemann müsse es schon sein.
Ich wußte, was mich erwartete, als ich jetzt mit dem Beiboot rüber zur KAPDUVA motorte. Da stand er am Heck, Peter, der neue Besitzer, neben ihm, mit fröhlichen Augen, zwei kleine Kinder in ihren nassen Badehosen. „Come on board!“ ließ ich mir nicht zweimal sagen. „Ja, Steve ist vor ein paar Monaten gestorben. Er war schon lange am Ende seiner Kräfte“, sagte der neue Eigner dieses schönen Schiffes. Und dann erzählte er, und das hätte Steve sicher gefreut: „Es ist ein tolles Schiff, ich werde es im Geiste von Esther und Steve weitersegeln. Kurz vor seinem Tod holten wir Steve an Bord und segelten mit ihm nochmals vor den Hafen. Er war schon schwach, konnte die Schoten nicht mehr dichtholen. Aber er beobachtete mich und meine Kinder ganz genau, checkte aus den Augenwinkeln jeden Knoten, jeden Kopfschlag, den wir machten, strich mit den Fingern über den Lack, den ich wenige Tage zuvor aufgebracht hatte. Nachdem wir angelegt hatten, unter Segel natürlich, und ich Steve von Bord trug, da sagte er nur ganz leise, dass seine KAPDUVA in guten Händen sei!“
Was er denn vorhabe, fragte ich Peter, ob er um die Welt segeln wolle. Peter lächelte freundlich: „Wir“, ja, er sprach auch für seine kleinen Kinder, „wir wissen es noch nicht, wir segeln solange nach Westen, wie es uns gefällt, wir haben nämlich sehr viel Zeit!“
Ich konnte mir die Frage nicht verkneifen: „Was ist mit der Mutter der Kinder?“
Peter schüttelte den Kopf, lachte, und es war ihm gar nicht peinlich: „No wife, no problem!“
Hier geht es zum Anfang des Buches SÜDSEETRÄUME.
In Kürze folgt der letzte Teil(8) von SÜDSEETRÄUME - Traumplatz zum Motor zerlegen.
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